DONNERSTAG, 21.05 UHR

Henning und Santos standen in dem großen, kalten Raum und sahen sich fragend an. Es war, als würden sie beobachtet, aber sie wüssten nicht, von wo. »Herr Albertz?«, rief Santos, keine Antwort. »Herr Albertz?«, rief sie noch einmal, wieder keine Antwort.

Sie fröstelte und legte die Hand an die Waffe, ohne sie zu ziehen. Henning tat es ihr gleich, sie drehten sich einmal im Kreis - niemand.

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, flüsterte Santos. »Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden.« »Keine Chance«, sagte mit einem Mal eine Stimme hinter ihr, die sie kannte, aber nicht zuordnen konnte. »Die Hände schön hinter den Kopf und ganz langsam umdrehen.«

Henning und Santos blickten in die Gesichter und Pistolenläufe von Friedmann und Müller. »Was soll das?«, fragte Henning und versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen.

»Tja, was soll das?«, wiederholte Friedmann grinsend. »Was glaubt ihr wohl, was das soll? Wir haben den Auftrag, euch von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Ihr habt eure Nase in Dinge gesteckt, die euch nichts angehen, und dafür zahlt ihr jetzt den Preis. Ihr hättet aufhören sollen, als noch Zeit dafür war.« »Hat Albertz euch beauftragt?« »Und wenn?«

»Dann lasst euch gesagt sein, dass wir uns gestern Abend mit ihm getroffen haben und er uns Folgendes gesagt hat: Ihr seid Schmeißfliegen, ihr habt schon mehrere Morde begangen, und wir sollen euch beseitigen«, sagte Henning ruhig, auch wenn die Angst ihm fast die Kehle zuschnürte. Er wollte noch nicht sterben, er wollte nicht erschossen werden, schon gar nicht von Kollegen, nicht von Kameradenschweinen.

»Schön«, erwiderte Friedmann immer noch grinsend, »dann hat er sich's eben anders überlegt. Außerdem, ihr kennt Albertz nicht, er würde uns niemals über die Klinge springen lassen, wir sind sein Team. Albertz spielt gerne, man sollte seine Worte nicht auf die Goldwaage legen. Was glaubt ihr, wie viele er schon reingelegt hat? Oder wieso glaubt ihr, hat er uns geschickt und ist nicht selbst gekommen? Hm, warum wohl? Weil er sich nicht selbst die Hände schmutzig macht, dafür hat er ja uns. Schließlich gibt es auch Seife. Aber wir sind nicht hier, um nett zu plauschen, mein Partner und ich haben einen langen und anstrengenden Tag hinter uns und wollen nur noch nach Hause.«

»Wie viel bekommt ihr dafür?« »Wofür?«

»Dass ihr uns umlegt?«, fragte Santos, die zwar den schwarzen Gürtel in Karate besaß und eine ausgezeichnete Nahkampfausbildung genossen hatte, aber zu weit weg von Friedmann und Müller stand, um etwas unternehmen zu können. Seltsamerweise hatte sie keine Angst, sie fixierte die gut drei Meter entfernt stehenden Männer und versuchte, in ihren Gesichtern zu lesen und eine Taktik anzuwenden, die sie bei ihrer Ausbildung gelernt hatte - sich so zu nähern, dass die Angreifer es nicht merkten. »Was geht euch das an?«

»Ihr könnt's uns doch sagen, wir werden es ja niemandem mehr verraten. Uns hat er jeweils fünfzigtausend angeboten, wenn wir euch das Licht ausblasen.«

»Du spinnst, Schnucki. So viel würde er nie springen lassen, außer für ...«

»Für was? Oder wen?«, hakte Santos nach.

»Einen richtig guten Auftragskiller. Zufrieden?«

»Dann hat er seine Meinung eben geändert. Fragt ihn doch, oder fehlt euch dazu der Mut?«

»Nee, nee«, sagte Friedmann, der auf Santos' Taktik nicht hereinfiel, »ich brauch ihn nicht anzurufen, wir arbeiten seit zehn Jahren für ihn und kennen ihn garantiert besser als ihr.«

»Okay, wie viel kriegt ihr denn jetzt?« »Zwanzigtausend für jeden, Schnuckiputz«, antwortete Müller mit einem noch breiteren Grinsen als Friedmann.

»Zwanzigtausend, mein Gott, das ist ja ein Spottpreis. Ihr hättet wenigstens handeln sollen. Ich denke, Sören und ich sind mindestens das Doppelte, wenn nicht das Dreifache wert. Für zwanzigtausend hätte ich euch nicht umgebracht. Aber ihr scheint bescheiden zu sein. Nun, wie heißt es doch so schön - Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.«

Henning wunderte sich über die Gelassenheit, die Santos an den Tag legte, und bewunderte sie dafür. Das Einzige, was ihn ein wenig versöhnte, war, dass sie gemeinsam in den Tod gingen, denn er sah nicht die geringste Möglichkeit, lebend aus dieser Situation herauszukommen.

»Liebe Lisa, du kannst noch so viel reden, wir werden dich und deinen Stecher trotzdem ins Jenseits befördern. Aber um ganz ehrlich zu sein, ich hätte dich auch gerne mal so richtig durchgenudelt«, sagte Müller. »Das hättest du nicht überlebt«, erwiderte sie kühl. »Ich weiß, dass du eine hervorragende Ausbildung genossen hast, wie wir auch. Was glaubt ihr, wieso wir schon so lange in dem Geschäft sind? Weil wir schlauer sind als die meisten. Warum habt ihr euch nicht aus dem Fall rausgehalten, wie Rüter angeordnet hat? Ihr könntet ein sorgenfreies Leben führen. Jetzt ist es zu spät ...« »Für wen?«, kam eine Stimme aus dem Nichts, Friedmann drehte sich abrupt um, während Müller weiterhin die Waffe auf Henning und Santos gerichtet hatte. »Wer ist da?«, fragte Friedmann nervös, der niemanden erkennen konnte.

»Ich!« Bevor Friedmann etwas erwidern konnte, trafen ihn zwei Kugeln in Kopf und Brust, woraufhin Müller sich umdrehte und nur Sekunden später neben Friedmann zu Boden fiel, die Augen weit aufgerissen. »Machen Sie jetzt keinen Fehler«, sagte Hans Schmidt alias Pierre Doux, »und nehmen Sie die Hände von Ihren Waffen. Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen. Albertz ist tot, ich habe ihn vorhin erschossen. Seine Frau weiß nichts davon, er sitzt wahrscheinlich noch immer in seiner Bibliothek, während seine schwangere Frau im Bett liegt. Sie hat mit der ganzen Sache nichts zu tun.«

»Sie sind der anonyme Anrufer«, sagte Santos mit zusammengekniffenen Augen. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, denn sie hatte den Fremden an der Stimme erkannt.

»Ja. Ich wollte, dass Sie erfahren, was in diesem Land vor sich geht. Ich denke, nun wissen Sie Bescheid. Nehmen Sie Ihre Pistolen ganz vorsichtig aus dem Halfter, legen Sie sie auf den Boden und schieben Sie sie zu mir. Bleiben Sie noch fünf Minuten hier, Ihre Waffen lege ich draußen ans Tor.«

Henning und Santos folgten der Aufforderung, Schmidt nahm die Pistolen an sich und steckte sie in seine Manteltaschen.

»Noch etwas sollten Sie wissen. Oberstaatsanwalt Rüter ist einer der Köpfe der Organisation. Machen Sie ihn fertig, denn dies hier war mein letzter Auftritt ...« »Wie sollen wir das anstellen?«, fragte Santos. »Jemanden wie Rüter kann man nur mit seinen eigenen Waffen schlagen. Denken Sie darüber nach, dass Rüter nur auf den Sessel seines Vorgängers gelangen konnte, weil dieser wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hat, nicht nur seines Amtes, sondern auch seiner Würde beraubt wurde. Er hat alles verloren durch Rüter... Ich denke, das sollte reichen. Manchmal muss man Grenzen überschreiten, um ans Ziel zu gelangen. Und auch mal das Gesetz Gesetz sein lassen. Rüter junior ist allerdings nicht das einzige Problem, sein Vater ist ein noch größeres. Nur, der sitzt in Berlin und an den ist kein Rankommen. Es sei denn, Sie haben Kollegen, die ... Aber ich will Ihnen keine Vorschläge machen, Sie wissen bestimmt selbst, was zu tun ist. Es war mir eine Ehre, Sie kennengelernt zu haben, von nun an werden Sie nie wieder von mir hören. Alles Gute.« »Sie sind ein Auftragskiller ...«

»Ja, aber glauben Sie mir, ich habe nur Menschen getötet, die selbst Blut an den Händen hatten, leider gibt es zwei Ausnahmen, um die es mir sehr leidtut. Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe, das versichere ich Ihnen, aber ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Jetzt muss ich gehen. In fünf Minuten dürfen Sie rauskommen, dann bin ich über alle Berge. Adios.«

»Eine Frage noch, wenn Sie sich schon so gut auskennen ...«

»Machen Sie schnell.«

»Der Verfassungsschutz, ist das wirklich so übel bei denen?«

»Nein. Albertz und Konsorten haben sich hinter dem Verfassungsschutz versteckt. Natürlich läuft da nicht alles koscher ab, aber im Grunde ist es eine notwendige und auch saubere Institution. Schwarze Schafe finden Sie überall, siehe Friedmann und Müller. Lassen Sie die beiden hier liegen, irgendwer wird sie irgendwann finden. Sagen Sie niemandem, dass Sie heute Abend hier waren, oder haben Sie es schon getan?«

»Nein, nicht einmal unser Vorgesetzter weiß davon«, beeilte sich Santos zu versichern. »Gut, dann belassen Sie's auch dabei.« »Bitte, noch eine einzige Frage, dann lasse ich Sie in Ruhe«, sagte Santos. »Schießen Sie los.«

»Die Fremd-DNA, woher haben Sie die?« Schmidt lächelte. »Sie stammt von einer Frau, die ich sehr gut kannte. Sie ist leider vor einigen Jahren auf recht grausame Weise ums Leben gekommen. Die Worte Ihres Innenministers waren nur heiße Luft, wie das meiste, was Politiker so von sich geben.«

Er ließ weder Henning noch Santos die Gelegenheit, etwas zu erwidern, und tauchte so lautlos im Dunkeln unter, wie er gekommen war.

Henning und Santos fielen sich in die Arme, beide hatten Tränen in den Augen, die Anspannung der letzten Minuten löste sich. Sie hielten sich lange umarmt, bis Henning das Schweigen durchbrach. »Ist dir klar, was hier eben abgelaufen ist? Der Auftragskiller, hinter dem wir her waren, hat uns das Leben gerettet. Ich glaube, das werde ich bis ans Ende meines Lebens nicht begreifen.«

Santos wischte sich die Tränen ab. »Es ist ein Alptraum. Wir wären beinahe erschossen worden, wenn der Typ nicht aufgetaucht wäre. Ausgerechnet der!« »Weißt du was, mir ist scheißegal, wer uns das Leben gerettet hat, Hauptsache, wir leben. Sind die fünf Minuten um?«

»Keine Ahnung, lass uns gehen. Der ist sowieso längst über alle Berge. Ich sollte mal wieder in die Kirche gehen und eine Kerze anzünden«, fügte Santos hinzu, während sie an Friedmann und Müller vorbeigingen, die in ihrem Blut auf dem kalten Marmorboden lagen. »Uns ist das Leben noch einmal geschenkt worden, wir sind Glückskinder.«

»Das sind wir. Gehen wir noch was trinken? Einen feinen Wein?«

»Was immer du willst.«

»Dann weiß ich schon, wohin wir fahren. Ich hatte solche Angst, mir zittern jetzt noch die Knie«, sagte Santos. »Das hat man dir aber nicht angemerkt.« »Das ist die Ausbildung. Angst haben, sie aber andere nicht spüren lassen. Kein Wort darüber zu Volker.« »Sowieso nicht, der hat wahrlich andere Sorgen. Glückskinder, mein Gott, was hatten wir für ein Glück.« Sie fanden ihre Pistolen vor dem Tor, wie Schmidt ihnen versprochen hatte. Henning zog das Tor hinter sich zu, und sie stiegen in den roten BMW. Santos fuhr nach Kiel und hielt vor einem Restaurant, wo es nicht nur gutes Essen, sondern auch Weinspezialitäten aus aller Welt gab. Sie bestellten sich jeder einen Teller Spaghetti mit Scampi und einen französischen Rotwein, von dem eine Flasche fast hundert Euro kostete, doch an diesem Abend achteten sie nicht auf den Preis. Sie feierten, obwohl ein schaler Beigeschmack blieb, wenn sie an den Auftragskiller, das Phantom, dachten, der ihnen in einer ausweglosen Situation beigestanden hatte. Letztlich war es unwichtig. Es ging ihnen gut, und das war die Hauptsache. Wieder zu Hause, lag Santos lange in Hennings Arm, sie konnten beide nicht einschlafen. Sie unterhielten sich über vieles, nur nicht über das, was sie in den letzten Stunden erlebt hatten. Ein andermal vielleicht, wenn sie das Geschehene besser würden einordnen können. Sie hörten Musik, tranken einen aromatischen Früchtetee und wollten nur noch abschalten.

Irgendwann würde wieder der normale Alltag einkehren, die Suche nach Vermissten, die Jagd nach einem Mörder, der seine Frau oder ein Kind umgebracht hatte, ein Metier, in dem sie sich besser auskannten als im Bereich der organisierten Kriminalität und den Machenschaften von Wirtschaft und Politik. Und sie hofften, nie wieder ein solches Phantom jagen zu müssen. Jetzt blieb nur noch eins zu tun: Rüter zu kippen.

 

Eisige Naehe
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